Spotlight: Frau Dr. Baumgärtner, Sie sind Ortsvorsteherin in Tübingen-Weilheim. Was genau gehört zu Ihren Aufgaben als Ortsvorsteherin? Wir freuen uns auf einen Einblick in Ihr Aufgabenfeld.
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Meine wichtigste Aufgabe ist, Vermittlerin zu sein. Als Teil der Verwaltung informiere ich die Mitglieder des Ortschaftsrats sowie die Öffentlichkeit über Hintergründe, Abwägungsprozesse und Entscheidungen der Verwaltung und des Gemeinderats. Als Mitglied des Ortschaftsrats bringe ich die Sichtweise der Ortschaft in die Planungsprozesse ein.
Auf den Punkt gebracht: ich schwätz‘ den ganzen Tag mit Leuten, informiere in meinem Mitteilungsblatt und schreibe Mails, um Informationen weiterzugeben und Stimmungen einzufangen, um für unseren Teilort das Beste rauszuholen. „Wer muss wann was wissen?“ ist die wichtigste Frage, die ich mir täglich stelle.
Spotlight: Wie kamen Sie dazu, als Ortsvorsteherin zu kandidieren? Und wie verlief dann der Prozess von der Idee, bis Sie im Amt waren?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Im Jahr 2006 hatten wir als Familie das Glück, in Weilheim eine Wohnung zu finden, in der eine vier-, später fünfköpfige Familie Platz und einen Garten hat. Der bisherige Ortsvorsteher trat nach 45 Jahren nicht mehr an und eine der beiden Liste hat mich gefragt, ob ich mit meiner Erfahrung nicht für den Ortschaftsrat und gleich als Ortsvorsteherin kandidieren möchte. Mich hat das Vertrauen in mich sehr gefreut und die Tätigkeit fand ich äußerst reizvoll.
Der Wahlkampf 2019 war für das eher unbedeutendere Gremium „Ortschaftsrat“ ungewöhnlich intensiv. Eine weitere Person wollte gerne Ortsvorsteher werden. Das intensive Werben der Mitglieder meiner Liste für mich sowie meine politische Erfahrung haben am Ende den Ausschlag gegeben, dass ich Stimmenkönigin und von der Mehrheit des Rates zur Ortsvorsteherin gewählt wurde.
Spotlight: Welche Berufserfahrungen und Vorbildung brachten Sie mit? Was war davon besonders wichtig für Sie, um in Ihre Aufgaben hineinzuwachsen?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Als Politikwissenschaftlerin bin ich es gewohnt, Konflikte sachlich zu analysieren. Emotionen bei der politischen Auseinandersetzung rauszuhalten und Meinungsverschiedenheiten möglichst nicht persönlich zu nehmen. Das sind hilfreiche Voraussetzungen. Über mein kommunalpolitisches Engagement im Gemeinderat und einer kurzen Anstellung im Landtag war ich mit politischen Dynamiken vertraut, in öffentlichen Darstellungen bei Sitzungen und in der Pressearbeit geübt und die formellen Abläufe einer Sitzung und Antragsverfahren waren mir geläufig.
Auf diese Vorbildung bauen zu können, war sehr gut, um in die Aufgaben als Ortsvorsteherin hineinzuwachsen. Nicht zuletzt profitiere ich aber auch von den Kompetenzen einer Mama. Das permanente Jonglieren einer Vielzahl von Projekten, die zum Teil vehementen Formulierungen einzelner Bedürfnisse und die Geduld, wenn es mal langsamer geht als gedacht, kenne ich aus meinem familiären Alltag nur zu gut.
Spotlight: Warum haben Sie sich für Tübingen-Weilheim entschieden? Was gefällt Ihnen an Weilheim und wo sehen Sie besondere Herausforderungen?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Dass wir in Weilheim gelandet sind, war zunächst das Glück der erfolgreichen Wohnungssuche. Meine Familie und ich fühlten uns hier allerdings von Beginn an unglaublich wohl. Wir lieben den dörflichen Charakter, sind dankbar um die freundliche Aufnahme in der Dorfgemeinschaft und schätzen die Nähe zur Universitätsstadt.
Spotlight: Was raten Sie anderen Frauen (und auch Männern), die wissen: Ich möchte beides: Amt und Familie?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: In den meisten Fällen nimmt der Ortschaftsrat Entscheidungen, die der Gemeinderat trifft, zur Kenntnis. In der Regel haben wir eine beratende Funktion für die Belange unserer Ortschaft. Niemand kennt die Situation vor Ort besser als wir. Daher hilft unsere Ortskenntnis den Mitgliedern des Gemeinderats bei ihren Entscheidungen.
Erst 1971 wurde Weilheim zur Universitätsstadt eingegliedert. Um der früheren Eigenständigkeit Rechnung zu tragen, wurde vertraglich festgelegt, dass bei wichtigen Themen, die unsere Ortschaft betrifft, der Ortschaftsrat vor den Gremien, die eine Entscheidung treffen, angehört wird. Diese Reihenfolge wird nicht immer eingehalten und das sorgt in regelmäßigen Abständen für Ärger.
Spotlight: Welche Ziele haben Sie in Ihrer Amtszeit? Was sind Themen, die Ihnen besonders am Herzen liegen?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Mein persönliches politisches Anliegen ist seit jeher, alle Bevölkerungsgruppen an Entscheidungen, die sie betreffen, zu beteiligen.
Das Geschlechterverhältnis im Weilheimer Ortschaftsrat ist nahezu „fifty-fifty“. Das zeigt, dass die Bevölkerung Frauen wie Männern zutraut, die Entwicklung der Ortschaft zu gestalten. Das freut mich sehr und ich hoffe, wir können das auch für den nächsten Rat sagen, der im Juni gewählt wird.
Bei der Umgestaltung des Schulhofs war mir die Beteiligung der Grundschüler*innen wichtig. Und auch die Kleinsten (die Kinder im Kinderhaus) habe ich besucht und nach ihren Wünschen für die Ortschaft gefragt. In Bildern haben sie mehr bepflanzte Grünflächen und ein Wasserspiel am Spielplatz festgehalten. Ersteres Anliegen habe ich einem größeren Beteiligungsprozess zu Grunde gelegt und für die Umgestaltung des Alten Friedhofs vorgeschlagen. Während Corona habe ich meine Sprechstunden auf das Areal verlagert und bin mit den Leuten ins Gespräch gekommen. Positive Erwartungen wie negative Befürchtungen einer stärkeren Öffnung des Parks habe ich mit den Mitgliedern des Ortschaftsrats diskutiert und in den Planungsprozess für eine naturnahe Gestaltung mit dezenten Aufenthaltsmöglichkeiten eingebracht. Im Frühjahr werden die Beete angelegt und die Sitzgelegenheiten errichtet.
Im Juni werde ich wieder als Ortsvorsteherin kandidieren. Ziele für meine zweite Amtszeit sind: ein zentrales Wärmenetz durch erneuerbare Energien mit genossenschaftlichem Betreiber errichten und ein Neubaugebiet realisieren, das den Zukunftsansprüchen an ökologischer und sozialer Verantwortung gerecht wird, inklusive einer Pflege-WG für die Hochbetagten aus unserer Ortschaft.
Spotlight: Haben Sie auf Ihrem Weg Unterstützung erfahren und welche Unterstützung war besonders wertvoll für Sie?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Die wohlwollende Aufnahme und Begleitung alteingesessener politisch Interessierter und ehemaliger Ortschaftsräte unterschiedlicher Parteien ist für mich die größte Auszeichnung meiner Arbeit und die wichtigste Stütze, wenn ich Fragen habe.
Spotlight: Was macht Ihnen besonders viel Freude am Amt der Ortsvorsteherin?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Mit den unterschiedlichsten Menschen aus dem Ort gemeinsam Projekte voranbringen. Das macht mir sehr viel Spaß und in Zeiten wie diesen sehe ich das als Grundpfeiler für eine lebendige und tolerante Demokratie.
Spotlight: Wie umfangreich ist die Tätigkeit und wie sieht eine typische Arbeitswoche bei Ihnen aus?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: So wie ich die Aufgabe als Ortsvorsteherin ausfülle, ist es zeitlich ein 50%-Stelle. Montag und Dienstag Vormittag bin ich im Rathaus und stimme mich mit meiner Mitarbeiterin ab. Dienstag Nachmittag ist meine Sprechstunde. Alle vier Wochen ist Dienstagabend Ortschaftsratssitzung. Ab nächste Woche kommt Mittwochabend alle 14 Tage die Sitzung der Arbeitsgruppe Wärmenetz dazu. Immer mal wieder gehe ich in den Gemeinderat und habe Abstimmungssitzungen mit der Verwaltung und meine Kolleg*innen aus den anderen Teilorten. Ab 75 Jahren besuche ich auf Wunsch Ältere zum Geburtstag. Und auf der Straße oder per Mail werde ich natürlich ständig angesprochen. Die schönste aller Aufgaben ist es, Menschen zu trauen. Das mache ich aber nur zwei, drei Mal im Jahr.
Spotlight: Im Jahr 2022 sind Sie als Kandidatin bei der Oberbürgermeisterwahl in Tübingen angetreten. Unsere Kampagne richtet sich ja an Frauen und Männer, die sich für eine Kandidatur interessieren. Ein Wahlkampf ist ein intensiver Prozess und eine Niederlage muss man bei einer Kandidatur immer einkalkulieren. Was nehmen Sie Positives aus dem Wahlkampf mit? Wie kann man sich auch auf eine Niederlage einstellen und was kommt dann doch eher überraschend?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Die Motivation meiner Kandidatur zur OB-Wahl in Tübingen war, eine demokratische Wahlentscheidung zu ermöglichen. Mit meiner Bewerbung wollte ich den innerparteilichen Auswahlprozess für eine Kandidatin/ einen Kandidaten beleben. Das ist mir gelungen. In Tübingen ging es in dieser Zeit sehr dynamisch zu. Leider hat der Amtsinhaber sich aus dem Prozess rausgezogen, in dem er eine eigenständige Kandidatur unternommen hat. Als dann gewählte Kandidatin der Grünen ging es mir wieder darum, den Tübingerinnen und Tübingern ein weiteres Wahlangebot zu machen.
Die Möglichkeit, tatsächlich als Oberbürgermeisterin gewählt zu werden, war angesichts eines derart bekannten und in vielen Punkten erfolgreichen Amtsinhabers von Beginn an eher unwahrscheinlich. Erst im Laufe des Wahlkampfs hat sich abgezeichnet, dass es bei vielen eine Wechselstimmung gab. Unser klares Ziel war, dass es einen zweiten Wahlgang gibt. Dann schien alles möglich. Dieses Ziel haben wir knapp verfehlt. Dennoch bin ich mit meinen 22% sehr zufrieden.
Die Heftigkeit des Wahlkampfs musste ich erst verdauen. Allerdings ziehe ich sehr viel Positives aus dem „Abenteuer“, wie ich es heute nenne: Mut wird honoriert. Sehr viele Menschen aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern haben sich für meine Kandidatur bedankt. Gemeinsam kann man Unglaubliches erreichen. Mein Team in diesem Wahlkampfjahr war einfach unschlagbar. Wir haben Tag und Nacht geackert. 7 Tage die Woche kreisten unsere Gedanken um diesen Wahlkampf. Und Dinge, die nicht gut laufen, müssen benannt werden. Das sind die drei wichtigsten Lehren, die ich aus dem Wahlkampf ziehe.
Spotlight: Neben Ihrer Tätigkeit als Ortsvorsteherin sind Sie auch als Beraterin im kommunalpolitischen Bereich unterwegs. Hat die Erfahrung als Ortsvorsteherin und auch aus dem Wahlkampf Einfluss auf Ihre Beratungstätigkeit?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Selbstverständlich! Meine Seminare zu den „Grundlagen der Kommunalpolitik“ leben von den Geschichten, die ich als Ortsvorsteherin erlebe. Und meine Wahlkampferfahrung fließt in alle Workshops ein. Die Ermutigung und Stärkung von Frauen für und in der Kommunalpolitik sind mir besondere Anliegen.
Spotlight: Und zuletzt möchten wir gerne noch wissen: Worauf blicken Sie in Ihrer bisherigen Amtszeit mit Stolz und Zufriedenheit?
Ortsvorsteherin Dr. Baumgärtner: Auf die Stimmung. Wie gesagt, der Wahlkampf 2019 war intensiv und im Ort wie im Ortschaftsrat hat er Spuren und eine Spaltung hinterlassen. Heute arbeiten wir alle bestens zusammen und bis auf einige wenige Ausnahmen, macht der Ort keine Unterschiede mehr zwischen den Listenvertreter*innen.
Mit diesem gemeinschaftlichen Vorgehen werden wir die großen Aufgaben und Herausforderungen, die vor uns liegen, gut meistern. Davon bin ich überzeugt.
Das Interview mit Dr. Ulrike Baumgärtner führte Barbara Ogbone im Januar 2024.